Begleitbrief
        • Hermannsburg, den 16.Dezember 1982
  • Liebe Verwandte, Freunde, Mitstreiter,
  • ein etwas ungewöhnlicher Weihnachtsgruß an Euch alle soll in den nächsten Tagen herausgehen, für manche von Euch endlich wieder ein Lebenszeichen von Dethlefs in Hermannsburg, für alle ein Einblick (partiell natürlich nur) in das, was mich z.Zt. bewegt. Es war bei mir ja immer so, daß ich neben dem Standbein, den dienstlichen Aufgaben, ein Spielbein, ein frei gewähltes Engagement, brauchte, um die innere Balance zu halten. Von dem letzteren sind die 7 Gedichte ein Zeugnis, und ich hoffe, daß Ihr Euren Martin Dethlefs darin ein Stück weit wiedererkennt, vielleicht auch ein Stück von der Welt, in der wir alle leben, vielleicht auch ein Stück Eurer eigenen Leiden und Träume. Dazu noch ein paar Gedanken:

    Liebe ist immer radikal. Im alltäglichen politischen Ringen um Umwelt und Zukunft kann und darf ich der Liebe zur Schöpfung und zum Geschöpf nicht Ausdruck geben, sondern muß in Kompromissen reden und auch denken. So entsteht bei mir ein Überdruck, eine besondere Art der Frustration. Die Gedichte sind der Versuch, diesem sehr persönlichen Problem zu begegnen. Zunächst hatte ich Prosa schreiben wollen, geriet damit aber derart in die Breite, daß ich mich selbst nicht mehr zurecht fand und auch angesichts des tiefen Mißtrauens, das ich gegenüber dem geschriebenen Wort seit längerer Zeit hege, aufgeben mußte. Der auf den Punkt gebrachte Gedanke, der elementare, aber scharf begrenzte Ausschnitt aus meiner Erlebnis- und Gedankenwelt ist z.Zt. offenbar die Form, in der ich meinen Schmerz und meine Dankbarkeit, meine Verzweiflungen und meine Träume artikulieren kann. Radikale Liebe findet so ihren Kanal, und ein Stück weit auch wirkliche Gestalt.

    Ich habe deshalb nun nicht den Ehrgeiz, in den erlauchten Kreis der Lyriker einzutreten; davon gibt es genug, und die gegenwärtige Dichtung beschäftigt mich eigentlich wenig. Diese Gedichte sind meine Gedichte, und ich weiß auch überhaupt nicht, ob sie für eine wie auch immer gedachte Öffentlichkeit lesbar und interessant sein würden. Daher schicke ich sie Euch auch nicht ohne ein gewisses Herzklopfen: Jedes Gedicht, auch das etwas plakative vorletzte, ist mühsam, aber in besonders erfüllten Stunden errungen. Es geht – abstrakt gesagt – um Schöpfungstheologie, allerdings nicht in einer abstrakten, zur reinen Kopfarbeit verkommenen Form, sondern um erlebte, solidarische, durchlittene Schöpfungstheologie, die mit Schalom, dem Frieden Gottes, ernst zu machen versucht, der im zwischenmenschlichen Bereich gewiß nicht wirksam werden kann, wenn nicht zugleich die fundamentale Einheit von Mensch und Natur neu erlernt wird.

    Pate gestanden haben bei meinem Nachdenken: Charles Birch mit seiner „sakralmentalen Betrachtungsweise“ der Natur (Vollversammlung des ÖRK in Melbourne 1976), der alte Häuptling Seattle der Duwamis-Indianer mit seiner Rede von 1854 (er gehört für mich inzwischen mit in die Reihe der „kleinen Propheten“, irgendwo zwischen Hosea und Jona), dann in unerreichbarer Ferne, doch mit umso größerer Leuchtkraft Franz von Assisi (vielleicht schaut er ja gerade zu vom Himmelstor und nickt – etwas zögerlich – mit dem Kopf), und dann – mancher von Euch, von dem ich weiß, daß er in ähnlicher Weise unterwegs ist.

    Ich bin ganz tief überzeugt, daß es im Verhältnis zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Leben eine Ebene gibt, die quer liegt zur üblichen mörderischen Nutzen-Schaden-Philosophie, wie auch zur beschreibenden (und sezierenden) Biologie und Verhaltensforschung: Ich möchte lernen, dem Geschaffenen Bruder zu sein, auch wenn es nicht zu mir gehört; darin übe ich mich, z.B. mit dem Schwarzspechtpärchen im Sunder aus dem letzten Gedicht, um das ich herumstreiche wie ein verliebter Jüngling, und das mich akzeptiert, solange ich seine Grenzen achte.

    Im übrigen geht es uns – bei allem Auf und ab des Alltags – gut, und wir freuen uns auf das Weihnachtsfest. Ich wünsche Euch gute Tage im Kreise Eurer Familien, und daß die von außen hereindringenden Bedrohungen etwas zurücktreten möchten in der stillen Zeit. Schalom!

    Euer  

     Martin Dethlefs

    [Schöpfung gegen Atomenergie] [Eine inkompetente Provokation] [Krisengedichte um die Schöpfung] [Bergmolch] [Psalm 130] [Extra muros] [Pan] [Mein Leben] [Post mortem terra] [Kranichzug] [Golgatha] [Republik freies Wendland] [Intermezzo] [Lebensbild] [Wenn die Lichter ausgehen] [Schwarzspecht im Sunder] [Begleitbrief] [BI Südheide] [Naturkundliche Veröffentlichungen] [Wertschätzen] [Durch Tränen....] [Bundesverdienstkreuz] [andere Ehrungen] [Letzter Brief] [In Memoriam] [Kontakt]