Durch Tränen....

Durch Tränen siehst du schärfer.

Was ich noch sagen wollte ...

Von der Aufforderung zur Verrücktheit

Was tun Menschen auf dem Heimflug nach einer langen ereignisreichen Reise? Mich beschäftigen weniger die Ergebnisse als vielmehr die Erlebnisse, die Begegnungen, die Erkenntnisse, und sie erscheinen als Bilder, als Bestand an Bildern, die bleiben werden:

Bilder!  - Es sind die starken Bilder, die sich ihr Recht verschaffen: die Bilder von außen, die die Reise brachte, mehr noch die inneren Bilder, die davon ausgelöst werden; irgendwie müssen den äußeren Bildern die Bilder von innen korrespondieren, wenn sie denn sichtbar werden sollen, lebendig, und ihre Kraft entfalten. Es war wohl die selten günstige Konstellation von inneren und äußeren Bildern, die die nun vergangenen vier Wochen so überreich machten.

Auch wenn ich weiß, daß sie nur eine Facette sind in dem viel dramatischeren Geschehen, das mich auf dieser Fahrt mehr noch als sonst bedrängt hatte: die Bedrohung, die rasant fortschreitende Verwüstung der Erde, an der unsre Kirchen-Partnerschaften mit mehreren hundert Flügen im Jahr einen insgesamt vielleicht immer noch geringfügigen, relativ zu anderen kirchlichen Aktivitäten jedoch überdurchschnittlich hohen Anteil haben. Der Gedanke, daß wir die ökologische Frage verstärkt in den Schwerpunktbereich unserer Arbeit rücken könnten, kompensiert natürlich nichts. Ich muß die Frage nach den Fehlern, den Verirrungen, der Schuld stellen – und standhalten, wenn meine Rechtfertigungen zusammenbrechen ...

Die Worte des Propheten Hosea springen mich an, die die Summe der Probleme als ein einziges Problem durchschaubar machen und ihre bestürzenden Verdikte – auch und wieder über uns heute, sagen:

„Denn es ist keine Treue, keine Liebe und keine Erkenntnis Gottes im Lande, sondern Verfluchen, Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen haben überhandgenommen, und eine Blutschuld kommt nach der anderen. Darum wird das Land dürre stehen, und alle seine Bewohner werden dahinwelken: auch die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer werden weggerafft.“  Hosea 4,1 bis 3

Was  hat sich durch meine Reise geändert? muß ich fragen, und: Was muß ich reden, wenn ich zu Hause bin?

Geändert hat sich – so gut wie nichts! In unseren Gesprächen haben wir die Übereinstimmung gesucht und nicht die Konfrontation – generell; und dann haben ein paar Favella-Kinder (Carolinas Kinder!) Geld bekommen, von nicht einmal für ihre Verhältnisse bedeutsamer Menge; einem Indianerkind haben wir dagegen die vielleicht lebensentscheidenden Mittel für eine Einweisung ins Krankenhaus verweigert – mit guten Gründen, aber hohem Risiko. Ja, und dann haben Burgers, als sie meinen Urwald-Besuch vorbereiteten, eine Giftschlange, die auf dem Weg lag, nicht erschlagen, erstmals in ihrem Leben, und ich bin sicher: Sie werden dahinter nicht mehr zurück können, es sei denn, besondere Gefahr wäre im Verzug. Ein wichtiger Schritt, ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Mir fällt die berühmte, aber inzwischen so gut wie vollkommen vergessene Rede des australischen Biologen Charles Birch auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 in Nairobi ein, in der er mit Hiob (Kapitel 38) fragt:

„Wozu Blumen in der Wüste nach dem Regen, wo kein Mensch ist? Sind sie wertlos, wenn es niemanden gibt, der sie braucht oder bewundert?“

Birch postuliert eine „sakramentale Betrachtungsweise der Schöpfung“! Es geht ihm um die „Widerentdeckung der fundamentalen Einheit der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt“, um die Einsicht, „daß es neben der Ökologie der Welt auch eine Ökologie Gottes gibt ... daß Gott nicht vor aller Schöpfung, sondern mit aller Schöpfung sei.“ Sakramentaler Charakter der Schöpfung würde heißen: Die ganze Erde mit allem, was darinnen lebt, ist von Gott geliebt, gewollt, bestätigt, geheiligt, mit unantastbarem Eigenwert versehen. Es war ein Irrweg, seit Descartes (und nicht erst seit ihm) die Erde als Steinbruch und Müllkippe zu behandeln: Wer die Schöpfung antastet, tastet Gott an – und muß die Folgen tragen, und dies ist eine präzise Interpretation unserer Weltsituation heute. Gott läßt sich nicht spotten, auch heute noch nicht. Wer nicht hören will, muß fühlen ...

Und nun stürmen die Bilder daher, gewohnte Bilder zum Teil: Der Bauer fährt im Rahmen „ordnungsgemäßer“ Landwirtschaft mit der Insektizidspritze über das Feld, und 100 000 kleine Individuen hinter ihm legen die Flügel an, ziehen die Beinchen unter den Leib, zittern ein wenig und fallen herab, ein unermeßliches Sterben, lautlos, widerstandslos, gehorsam dem Töter. – Das Blauwalweibchen durchpflügt in der Brunftzeit die leergeschossenen Meere nach einem Männchen zur Paarung – umsonst. – Und am Amazonas brennt der Wald, und täglich gehen Arten dahin, nie gesehen, nie beschrieben, aber von Gott geliebt ...

Was werden wir – als Kirche und außerhalb von Kirche – dazu sagen? Werden wir Völkermord und Bodenspekulation, Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, Ausrottung des Regenwaldes und Vertreibung der Ureinwohner (sowie der Kleinbauern und vieler anderer Gruppen) als das beschreiben, was es ist, nämlich Häresie, und damit endlich in der gebotenen Klarheit Position beziehen? Lügen wir uns doch nicht weiterhin unter dem Vorwand, dies sei gesetzliche Rede, in die eigene Tasche! Es ist zwar wahr: Gesetz ohne Evangelium tötet. Auch wahr aber ist: Evangelium ohne Gesetz wird flach, billig, verkommt zu Geschwätz – und tötet dann nicht weniger effektiv: den Geist, die Schöpfung, das Leben. Die „gnadenlosen Folgen (auch!) des Christentums“ fordern uns heraus ... Was werden wir sagen?

Das für das gesamte Mosaische Gesetz extrem wichtige (und immer wieder einmal schüchtern hervorgeholte und dann schleunigst wieder vergessene) 25. Kapitel des Dritten Moses-Buche fällt mir ein, das Gesetz über das Sabbat- und das Erlaßjahr, das Ruhe für die Erde und ihre Bewohner in jedem siebenten und eine umfassende Entschuldung der Gesellschaft in sich selbst in jedem fünfzigsten Jahr gebietet und in die zwingende Formulierung mündet:

„Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer, denn das Land ist mein (spricht der Herr), und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.“

Entschuldung der über die Grenzen ihrer Produktivität hinaus verschuldeten Länder der südlichen Halbkugel, Entschuldung der brasilianischen Kleinbauern (und aller anderen, die „unter die Räuber“ gefallen sind): eine phantastische Vorstellung, eine Utopie, die sinngemäß auf alle anderen Felder der Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung anzuwenden wäre. (Anmerkung der Herausgeber: Inzwischen laufen weltweit Erlaßjahrkampagnen, die eine weitreichende Entschuldung der armen Länder fordern. Weiter soll darauf hingearbeitet werden, daß die internationalen Finanzbeziehungen neu gestaltet werden und ein völkerrechtlich verbindliches „Internationales Insolvenzrecht“ entsteht.)

Charles Birch hatte dies schon 1975 im Blick:

„ ... daß die Befreiungsbewegung letztlich eine einzige Bewegung ist, die Befreiung der Frau, des Mannes, der Wissenschaft und Technik, des Tieres, der Pflanze, und auch die Befreiung der Luft und der Ozeane, der Wälder, Wiesen, Berge und Täler einschließt ...“

Kirche als umfassende Befreiungsbewegung? Es ist ja begreiflich, daß sowohl die Synagoge wie auch später alle Kirchen dies Kapitel aus dem mosaischen Gesetz gemieden und umgangen haben, hätten sie doch nicht nur die eigenen Besitztümer und das eigene Besitzgebaren zur Disposition stellen, sondern sich auch mit allem anlegen müssen, was über Macht und Einfluß verfügt. Kirche in unseren westlichen Gesellschaften ist genaugenommen nichts anderes als die Summe ihrer Mitglieder, und diese Mitglieder unterscheiden sich so gut wie gar nicht von ihren nichtchristlichen Mitbürgern. Das ist kein gutes Zeichen. Vielleicht, daß wir uns in unseren Kirchen verstärkt und mit vollem Ernst daran machen, Gottes gutem Willen über diese Welt Gehör zu verschaffen, Befreiung einzufordern ohne das durchtriebene Augenzwinkern, das Türchen offen läßt. Sie sind ja längst unterwegs, die Menschen guten Willens, sie sind viele, und ich habe ihrer viele neu kennengelernt, von Dom Aldo Mongiano bis Frank Tiss. Damit Kirche eindeutig werde, entschieden, unterscheidbar von den Kräften, die anderen Zielen folgen. Ich bin versucht, einen kategorischen Imperativ zu formulieren, unter dem wir uns alle finden könnten. etwa so:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zugunsten aller Menschen dieser Erde gelten könne, auch der Marginalisierten, zugunsten aller Zukunft dieser Erde, auch der noch nicht absehbaren, und zugunsten der Erhaltung der Lebensgrundlagen und Lebensgemeinschaften, auch der nicht-menschlichen ..“

Aber dann kehre ich doch wieder zu den Bildern zurück, den starken Bildern, die vertraut sind und Kraft transportieren, Trost, Verheißung:

„Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt – Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen bleiben ...“      (Matthäus 5)

Worte, Bilder der Befreiung auch dies, utopisch noch, aber nicht illusionär. Was müssen wir reden, tun, bezeugen in der Kirche, der Mission, damit Wirklichkeit werden kann, was Paulus uns an zentraler Stelle ins Stammbuch geschrieben hat und was ich hier – etwas locker übertragen – wiedergebe:

„Die ganze Schöpfung erwartet in unausgesetzten Qualen, daß die Kinder Gottes (endlich!) offenbar werden.“    (Römer 8)

Wie lange noch?

Und was werden wir nun predigen im Missionswerk?

Am Ende dieser Reise bin ich also beim mosaischen Gesetz über das Sabbat- und Erlaß-Jahr (3. Mose 25) angelangt. Wenn man Lukas glauben kann, hat Jesus (oder eben die frühe Gemeinde) dies Gesetz programmatisch verstanden:

„ ... zu verkündigen das Evangelium den Armen ... zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“

Und die geradezu schwindelerregende Aussage als Realität postuliert: „Heute ist dies Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

Ich frage: Was ist aus diesem Postulat geworden? Was haben wir daraus gemacht? Und was haben wir verschwiegen, verweigert, unterdrückt? Ich möchte meine besondere Hochachtung unserer brasilianischen Partnerkirche gegenüber ausdrücken, die bereits vor einem Jahrzehnt zu der Jahreslosung „Gottes Erde – Land für alle“ gefunden hatte und dies Programm jedenfalls von oben her konsequent durchzuhalten versuchte, nicht zu reden von Zeugen wie Pastorin Markus und Pastor Wolff, oder wie die beiden geistlichen Begleiter der Landlosen. Ich denke, da ist Kirche, da ist Kirche auf dem richtigen Weg. Aber wo stehen wir, deren Kirche noch nicht einmal ein klares Wort zur Atomkraft gefunden hat?

Jesus wurde – insbesondere da, wo er zu Hause war – für verrückt erklärt. Kirche, die für die Entschuldung eintritt, gegen Spekulation mit dem Land und allen natürlichen Ressourcen, die die Allianz mit dem Kapital aufkündigt, kann ebenfalls nur für verrückt gehalten werden – nur daß heute, wie wohl nie zuvor, die tödlichen Konsequenzen des „Normalen“ zunehmend erkennbar werden. Ich wage zu behaupten: Wir werden die Natur schonen, oder wir werden nicht leben; wir werden den Indianern Lebensrecht erhalten oder wir werden selbst das unsere nicht bewahren; wir werden den Markt, den Kapitalismus bändigen, oder er wird uns alle vernichten. Vielleicht hat Jesus – mit seiner Verkündigung des Gnadenjahres oder mit der Bergpredigt oder mit all seinen sonstigen Verrücktheiten – ja noch einmal – und heute eine Chance?

Ich möchte hier einen Ketzer zitieren: Adolf Holl, Abweichler und Kritiker und deshalb von seiner (römisch-katholischen) Kirche gemaßregelt und mit Lehrverbot belegt, der mir auf meiner Suche nach dem lebendigen Jesus wichtig geworden war. In seinem Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft“ versucht er, Jesus in dem zwischenmenschlichen Beziehungsrahmen nachzuzeichnen, den die Evangelien vorgegeben haben, und kommt dabei zu folgendem revolutionären Bild:

„Jesus ist bei den Kindern, die von zu Hause fortlaufen. Bei den Gefangenen und Verurteilten. Immer bei den Armen, nie bei den Reichen. Stets bei den Unzufriedenen, die Satten meidet er. Nicht bei den Erhaltern des Bestehenden, denn die kommen ohne ihn zurecht. Jesus nimmt Partei für die Ohnmächtigen. Den Zornigen fühlt er sich verbunden. Gründungsversammlungen besucht er nicht. In Kirchen ist er selten zu sehen – dort wird er ohnedies verehrt. Jesus ist unauffällig gekleidet, eine Uniform trägt er nie.

Er hält sich nirgends lange auf.“

Dies Bild Jesu mag nun zutreffen oder nicht: Ich kann sie alle hier endlich einzeichnen, denen ich begegnete und an denen mir liegt – ohne Vergewaltigung auch nur einer Seite zu begehen:

„Jesus ist ... bei den Kindern vom Kanal in Curitiba, bei den Indianern von Duque de Caxias, bei den Müllwerkern von Novo Hamburgo, bei den Kleinbauern von Irati und Xingu, bei den Landlosen von Grammado dos Loureiros und Palmitos, bei den Indio-Mischlingen auf dem Amazonas-Floß und – verzeiht mir die Schwäche – bei ihrem Affenkind und allem, für das dieses steht ... „

So endet dieses Buch also mit einer Aufforderung zur Verrücktheit, anders geht es wohl nicht. Vielleicht findet sich Jesus dann ja auch einmal bei uns ein – gelegentlich – aber wenn es wichtig ist – in entscheidenden Momenten – hoffentlich ...

Und hoffentlich findet er uns dann bereit mitzugehen, das Unsere auf uns zu nehmen. Ich kenne mich doch und weiß, daß meine Faul-Feigheit tausend Schliche kennt! Aber wie sagte Pastor Wolff; Was ist schwerer, Land besetzen – oder ... ?

 

Auszug aus dem Buch

Durch Tränen siehst du schärfer

Eindrücke, Erfahrungen, Reflexionen von einer Reise in Brasilien

erschienen beim

Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen 1999

Verlag der Missionshandlung Hermannsburg

ISBN 3-87546-119-3

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