Wertschätzen und freigeben

Auf sonnendurchflutetem Waldweg ein Falter:
wenn er die Flügel öffnet, leuchtet es auf,
tiefblau, wunderbar ...
Was ist er uns wert?
Viele nehmen ihn nicht einmal wahr;
mancher nennt ihn schädlich und greift zum Gift;
mancher will ihn besitzen, keschern, nadeln,
in den Sammelschrank sperren.
Niemand aber erwartet, was dir widerfährt,
Anfang Juli, in der Hitze des Hohen Mittags,
im Weichholz-Bruch:

Der Falter (Kleiner Schillerfalter, Apatura ilia,
vom Aussterben bedroht) nimmt dich an,
umkreist dich lebhaft, mit fast schon hörbarem
Flügelschlag, landet auf deinem Arm, in deinem Haar,
steigt um auf deine Hand, als du – behutsam –
ihn abzustreifen suchst, verliebt sich
in deine Hand, trinkt von ihr – tastend – den Schweiß.
Wie eleicht und kühl der kleine Rüssel tupft

Dann, kaum fortgeflogen, um einen Artgenossen
zu treffen, stellt er sich wieder ein,
läßt nicht ab von dit,
steigt von einer Hand in die andere, tastet,
saugt, genießt, wie süchtig
- dich ...

...und wird so zum Bild und Zeichen eines anderen,
neuen, unendlich einfühlsamen,
zärtlichen Umganges zwischen uns und der Schöpfung:
Was war der Falter dir wert? –
du warst ihm wert, so viel, daß er die
tiefe Furcht überwand, die dich von ihm trennt.
Gut, wenn du freilassen kannst, was nur
in seiner Freiheit dir wert werden kann ...

"Die ganze Schöpfung wartet in Schmerzen darauf,
daß die Kinder Gottes – endlich –
offenbar werden." (nach Römer. 8,19)

     Martin Dethlefs

(Der Autor, Referent für Partnerschaftarbeit im Bildungsreferat des ELM, ist gleichzeitig der Umweltbeauftragte unseres Werkes. Denn er hat eienen besonderen, fast intimen Kontakt zur Schöpfung. Er findet den Schatz in jeder Kreatur, ob Falter oder Kraut am Wegesrand.)

aus: Mitteilen  (Hermannsburger Missionsblatt) 6/94